Die Nationale Diabetesstrategie (NDS) wird heute vier Jahre alt.Trotz dieses Jubiläums verstaubt sie unbeachtet in einer Schublade des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) und wartet seit ihrer Verabschiedung 2020 auf eine Umsetzung. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe fordern die sofortige Rückkehr der NDS auf die gesundheitspolitische Agenda und ihre endgültig vollständige Überführung in einen nationalen Rahmenplan. Dieser muss eine ganzheitliche gesundheitspolitische Strategie verfolgen, die sowohl verhaltens- als auch verhältnispräventive Maßnahmen integriert. Stattdessen verfolge das BMG ungenügende Einzelmaßnahmen wie das „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG) – ohne ein ganzheitliches Konzept zur Bekämpfung von Volkskrankheiten wie Diabetes, Herzkreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Adipositas und Bluthochdruck.
„Der Jahrestag der Nationalen Diabetesstrategie erinnert daran, dass die Politik bereits seit 4 Jahren eine konkrete Anleitung für eine bessere nationale Diabetes- und Gesundheitsprävention in den Schubladen hat, die Gelegenheit zur Umsetzung jedoch Jahr um Jahr verstreichen lässt“, kritisiert DDG Präsident Professor Dr. med. Andreas Fritsche. In der damaligen Verabschiedung des Bundestages am 3. Juli 2020 wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Prävention und Versorgungsforschung zu Diabetes mellitus und Adipositas voranzubringen sowie den Ausbau der entsprechenden Lehrstühle zu fördern1. Entgegen dieser Ziele sei die „sprechenden Medizin“ weiterhin unterfinanziert, Lehrstühle fehlten sogar zunehmend und die Weiterbildung drohe zu verkümmern. „Auch die aktuelle Krankenhausreform wird diese Misere leider verstärken“, betont Fritsche. „Die Versorgung von Millionen Menschen droht künftig schlechter, anstatt besser zu werden“, befürchtet der Tübinger Diabetologe.
Schnellschüsse anstatt ganzheitlicher Strategie: BMG fehlt der Health-in-All-Policies-Ansatz
„Wir begrüßen es, dass sich Karl Lauterbach die Prävention auf die Fahnen geschrieben hat. Sein aktuell geplantes `Gesunde-Herz-Gesetz´ kann den Ansprüchen einer gesamtgesellschaftlichen Präventionsstrategie jedoch nicht gerecht werden“, kritisiert Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der DDG und Sprecherin Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK). „Die darin enthaltenen Aspekte erscheinen als reiner Aktionismus. Sie widersprechen den internationalen Empfehlungen der WHO und EU, im Sinne eines `Health in All Policies´-Ansatzes, ressortübergreifend zu agieren.“ Dazu gehöre, dass weitere gesundheitsrelevante Bereiche wie Ernährung, Sport, Bildung, Forschung, Verbraucherschutz, Arbeit, Soziales, Familie, Senioren, Frauen, Jugend, Umwelt, Verkehr und Stadtentwicklung eingebunden werden.
Bereits nach der Verabschiedung der NDS im Bundestag 2020 wiesen DDG und diabetesDE darauf hin, dass im Beschluss das Bekenntnis zu verhältnispräventiven Maßnahmen noch fehleund hier Nachbesserungen notwendig seien.2 Hierzu zählen bundesweit verpflichtende Standards bei der Qualität der KiTa- und Schulverpflegung, eine e Regulierung für an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung, eine „Gesunde Mehrwertsteuer“, die gesunde Lebensmittel steuerlich begünstigt und die Steuer auf ungesunde Lebensmittel erhöht (Zuckersteuer) sowie eine verpflichtende Kennzeichnung mit dem Nutri-Score für alle Lebensmittel. „Wir haben bereits erfolgreich dafür gekämpft, den Nutri-Score einzuführen. Allerdings ist er bis heute ein zahnloser Tiger. Es fehlt die Verbindlichkeit, da er noch auf die Freiwilligkeit der Industrie setzt“, bemängelt Bitzer. Gleiches gilt für die Zuckerreduktion in Lebensmitteln und Softgetränken: Auch hier setzt die Politik auf Freiwilligkeit der Industrie – ohne effektive Wirkung. „Umso wichtiger ist es, dass sich jetzt die Mehrheit der Bundesländer für eine Softdrink-Steuer ausspricht. Die Bundespolitik hinkt auch hier hinterher und muss das Signal der Länder jetzt ernsthaft diskutieren “, so Bitzer. Mit Sorge blicken DDG und DANK auch auf den politischen Stillstand beim Kinderlebensmittel-Werbegesetz (KLWG). „Wir setzen die gesunde Zukunft unserer Kinder aufs Spiel, wenn es keine umfassenden gesetzlichen Regelungen für Lebensmittelwerbung, die sich an Kinder richtet, gibt“, mahnt Bitzer.
Lauterbach verabreicht bittere Pille, anstatt echte Prävention!
Karl Lauterbachs fragwürdiger Vorzug der medikamentösen Vorsorge zulasten von Präventionsangeboten der Krankenkassen in dem Entwurf zum neuen „Gesundes Herz Gesetz“ (GHG) wirkt befremdlich: „Das Vorhaben des BMG, Gelder für Präventionsangebote zugunsten einer Gießkannen-Versorgung mit Statinen umzuschichten, basiert auf keinerlei Evidenz. Eine vorsorgliche Versorgung mit Medikamenten ist geradezu fahrlässig“, so Dr. med. Jens Kröger, Internist und Vorstandsvorsitzender diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe. „Zudem widerspricht Lauterbachs `Pillenpolitik´ der Grundidee von Prävention, verhaltenspräventive Maßnahmen zu stärken. Wir müssen verhindern, dass jede Minute ein Mensch neu an Diabetes erkrankt. Da helfen nicht Pillen, sondern individuelle, lebensstilverändernde Maßnahmen, die in ein gesamtgesellschaftliches, verhältnispräventives Konzept eingebettet sind“, ergänzt Nicole Mattig-Fabian, Geschäftsführerin diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe. „Es fehlt schon jetzt an ausreichender Ernährungs- und Bewegungsberatung, von der besonders Menschen mit Diabetes profitieren. Diese Angebote zu reduzieren, läuft am Ziel vorbei, da es die Notwendigkeit von Verhaltensprävention konterkariert.“
Dass Lauterbach die hohe Mortalitätsrate alleinig auf Herzkreislauferkrankungen zurückführt, sei ebenfalls zu kurz gesprungen. „Er zäumt das Pferd von hinten auf und verkennt die Synergie, die zwischen Volkskrankheiten wie Herzkreislauf, Diabetes, Blutdruck und Adipositas entsteht. Menschen sterben meist nicht, weil das Herz einfach versagt, sondern weil es eine Eskalationskaskade hinzu Herzkreislauf-Komplikationen gibt. Die muss vorzeitig unterbunden werden“, führt Kröger aus. Herz-Check-ups seien da zu kurz gesprungen, da das Kind dann oft schon in den Brunnen gefallen sei. In diesem Zusammenhang fordern die DDG und diabetesDE auch die Einführung eines Diabetesregisters, um die Datenlage für Evidenzbasierte Medizin zu verbessern und so Entscheidungen für Versorgung und Prävention besser zu lenken.
DDG und diabetesDE kritisieren die fragmentierten Präventionsmaßnahmen des BMG und betonen die Notwendigkeit einer kohärenten und umfassenden Strategie, um die Gesundheitsversorgung und Prävention in Deutschland nachhaltig zu verbessern. Sie fordern, dass die NDS nicht länger vernachlässigt, sondern wieder aktiv in die Gesundheitsagenda integriert wird, um den wachsenden Herausforderungen der Diabetesversorgung gerecht zu werden. „Karl Lauterbach hätte so eine reelle Chance, seinem Anspruch als Präventionsminister gerecht zu werden“, so Fritsche.
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